Kann die EU ihre Westbalkan-Politik ändern? Das ist nicht die Frage. Sie muss! | BÜTIS WOCHE #262

Die Westbalkan-Politik der EU befindet sich in einer verteufelten Sackgasse. Während auf der einen Seite in wichtigen EU Hauptstädten wie Paris und Berlin die Einsicht wächst, dass eine engagierte, dringliche und auf positive Ergebnisse in einem sehr überschaubaren Zeitraum setzende Erweiterungspolitik gegenüber dem Westbalkan unbedingt nötig ist, steht sich auf der anderen Seite die Europäische Union mit ihrer verfehlten Politik der letzten Jahre selbst brutal im Weg. 

Das Vertrauen in die EU sinkt. Sinkt auf dem Westbalkan. Die Geduld mit unserer Zögerlichkeit gegenüber uralten Beitrittsversprechen schwindet. Hunderttausende vor allem junger Menschen sagen sich: „Wenn die EU nicht zu uns kommt, dann kommen wir zu ihr.“ Sie emigrieren und lassen ihre Heimatländer ärmer und perspektivloser zurück. Korrupte Eliten in verschiedenen Ländern, die gelernt haben, aus der unbefriedigenden Lage, die durch nicht ernst gemeinte und nicht umgesetzte Versprechungen charakterisiert ist, für sich politischen und ökonomischen Profit zu schlagen, sind an dem notwendigen neuen Aufbruch gar nicht interessiert. Ausländische Mächte wie insbesondere Russland und China mischen sich verstärkt ein, weil die EU den Platz dafür lässt; sie sehen die Chance, die unbefriedigende und unübersichtliche Lage im Westbalkan zu nutzen, um die EU unter Druck zu setzen. Die USA, die wegen europäischer Zögerlichkeit in der Region eine unverhältnismäßig große Rolle spielen, haben sich für den untauglichen Versuch entschieden, den Westbalkan durch Appeasement gegenüber den stärksten Akteuren dort ruhig zu stellen, um sich wichtigeren Aufgaben widmen zu können. Die Hauptvertreter der Westbalkan-Politik der EU, nämlich der hohe Repräsentant für Außenpolitik Josep Borrell aus Spanien, der Erweiterungskommissar Várhelyi aus Ungarn und der Kosovo-Serbienbeauftragte Lajčák aus der Slowakei haben im Westbalkan ihre Glaubwürdigkeit weitestgehend eingebüßt. Sie können nichts mehr lösen, sie könnten nur noch positiv beitragen, wenn sie zurücktreten würden.

Warum ist auf dem Westbalkan so viel schief gelaufen?

Als die Westbalkan-Politik der EU konzipiert wurde, ging sie davon aus und konnte davon ausgehen, dass Serbien und Kosovo, Montenegro und Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien und Albanien allesamt ihre Zukunft als Teil der europäischen Völkerfamilie in der EU finden würden. Eine andere Zukunft war einfach nicht plausibel. Keines der Länder war stark genug, auf eigene Faust außerhalb des Rahmens der Europäischen Integration auf Dauer erfolgreich zu operieren; keines war stark genug, aus eigener Kraft eine tragfähige Ordnungsvorstellung für den Westbalkan zu entwickeln; zu groß waren die Widersprüche zwischen den verschiedenen Akteuren, als dass deren Befriedung und Überwindung ohne die Einbindung in die Europäische Union realistisch erscheinen konnte. Diese Analyse war richtig, aber dann folgte ein entscheidender Fehler der EU. Weil die gemeinsame europäische Zukunft des Westbalkan so selbstverständlich auf der Hand lag, ließ sich die EU leider verdammt viel Zeit, diese Perspektive praktisch auch ernst zu nehmen. Konnte es denn so einen großen Unterschied machen, ob die einzelnen Länder binnen 5, 10 oder 15 Jahren beitreten würden? Irgendwann würden alle doch in der EU landen. Warum also ungeduldig werden? In der EU war man sich dieser Perspektive so sicher, dass alles Mögliche wichtiger war, als eine energische Erweiterungspolitik auf dem Westbalkan. Ja, natürlich, man hätte zur Realisierung solcher Beitrittspolitik gewisse EU-Reformen praktisch anpacken müssen. Aber die waren unbequem, hätten den Status-quo infrage gestellt, hätten die Bereitschaft erfordert, für das größere Ziel nationale Zugeständnisse zu machen. Also entschied sich die EU tatsächlich für eine Als-ob-Strategie. Man ließ sich auf eine konkrete Erweiterungspolitik nicht ein. Man machte vage Versprechungen, die so ausgelegt werden konnten, dass keinerlei praktische Konsequenzen daraus gezogen werden mussten. Man tat so, als sie die Entscheidung für eine Erweiterungspolitik auf dem Westbalkan dem Grunde nach längst getroffen, als brauche es deswegen keine Festlegungen, und schuf sich auf der Basis die Möglichkeit, jegliche Verbindlichkeit auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben. Man einigte sich im Europäischen Parlament regelmäßig „Fortschrittsberichte“ mit Blick auf die Annäherung der Westbalkanländer an die EU zu verfassen, die regelmäßig viel Positives zu vermelden hatten, ohne dass die Fortschrittsberichte jemals zu transformativen Fortschritt führten. Und während die EU so tat, als arbeite sie an einer Beitrittsstrategie, ohne es praktisch ernst zu meinen, entschieden sich politische und ökonomische Eliten in verschiedenen Westbalkanländern, die Betrügerei der EU mit ihrer eigenen Betrügerei zu vergelten: Sie taten so, als arbeiteten sie inständig an dem Beitritt, ohne die damit verbundenen Reformaufgaben realiter hinreichend ernst zu nehmen. Die EU tat so, als ob sie eine Beitrittspolitik verfolge und Westbalkan-Eliten taten so als glaubten sie uns das. Sie erweckten den Eindruck, als strebten sie dem Beitritt entgegen und wir taten so, als glaubten wir das auch.

Ich weiß, dass die von mir gerade vorgenommene Generalisierung ungerecht ist. Ungerecht zum Beispiel gegenüber dem historisch gesprochenen, heroischen Bemühen Nordmazedoniens, sich die Tür zur EU zu öffnen, indem man sogar bereit war, den Namen des eigenen Landes zu ändern, um eine griechische Erpressung zu überwinden. Auch gegenüber einer neuerlichen Erpressung durch Bulgarien war die nordmazedonische Politik außerordentlich duldsam, weil sie hoffte, sich als schwächerer Akteur damit genug good will in Brüssel und den großen Hauptstädten Europas zu verschaffen. Umsonst. Auch andere Westbalkan-Hauptstädte machten ernsthafte Anstrengungen. Ab und zu. Aber insgesamt überwog das Als-ob.

Doch in der Zwischenzeit änderte sich die geostrategische Realität. Es gibt nicht mehr nur eine Zukunft für die Westbalkanländer, sondern es gibt deren inzwischen zwei, zwischen denen zu wählen ist. Nach wie vor ist die Zukunft in der EU eine Option. Doch es zeigt sich inzwischen, dass Russland und China durchaus ein aktives Interesse daran verfolgen, auf dem Westbalkan einen Außenposten zu errichten, einen Satelliten zu etablieren, mit dem sie in der EU für Unruhe sorgen können. Manche Westbalkanländer haben diese Entscheidung tatsächlich getroffen. Das gilt für Montenegro und Nordmazedonien, für Kosovo und Albanien. Alle vier wollen als Mitglied der euro-atlantischen Partnerschaft ihre Zukunft gestalten. Bosnien und Herzegowina ist zerrissen und Serbien, das stärkste Land auf dem Westbalkan weigert sich eine Entscheidung zu treffen. Serbiens von Russland unterstütze aggressive Politik, die insbesondere gegenüber dem Kosovo und gegenüber Bosnien und Herzegowina gefährliche und derzeit eskalierende Spannungen schafft, profitiert davon, dass die EU und die USA darauf bisher mit Appeasement reagieren. Serbiens Präsident Vučić hat gesagt, sein Herz sei in Moskau, aber sein Verstand führe nach Brüssel. Die EU hat das viel zu lange hingenommen. Brüssel hat schlicht nicht verstanden, wie der Satz wirklich zu verstehen ist. Ideologisch, von der Grundsatzorientierung her, nach den Ordnungsvorstellungen bemessen, will Serbiens Führung in einem Europa leben, in dem Russland eine oder die bestimmende Macht ist. Aber weil aus Brüssel mehr Geld zu erben ist als aus Moskau und weil in großen Teilen der serbischen Gesellschaft die Neigung zur EU trotz massiver Gegenpropaganda immer noch viel stärker ist als die zum russischen Imperialismus, möchten Vučić und Konsorten, so lang als möglich von der EU Illusion profitieren, dass eine klare Entscheidung Serbiens entweder vermieden werden könne oder vielleicht auch quasi von selbst zugunsten der EU fallen werde. Das ist eine pure Illusion. Jahrelang, jahrzehntelang hat die EU Belgrad enorm viel durchgehen lassen. Auch in jüngerer Zeit war das wieder in geradezu provozierender Weise der Fall. Kosovos Regierung wurde von der EU sanktioniert, weil sie in einem zugegebenermaßen heiklen Fall gegen den Rat der EU Schritte ergriffen hatte, die zu einer Eskalation beitrugen. Als aber dann von Belgrad organisierten Schlägerbanden im Nordkosovo europäische KFORKosovo Soldaten überfielen und böse verletzten, als serbische Einheiten drei kosovarische Polizisten von deren eigenem Staatsgebiet entführten, als serbische Terroristen einen kosovarischen Polizisten töteten und ein Kloster besetzen, schaffte es die EU noch nicht einmal die Übeltäter beim Namen zu nennen. Vielmehr zog man sich darauf zurück, allgemeine Appelle zur Vermeidung von Eskalation in alle denkbaren Himmelsrichtungen zu versenden und damit Aggressor und Opfer gleichzusetzen. Die EU reagierte auch nicht, als bekannt wurde, dass die Nummer 2 der serbischen Partei im Kosovo an dem Terrorüberfall beteiligt war und als Vučić in Serbien einen Tag der Trauer ausrief, um frei erfundene kosovarische Pogrome zu beklagen und de facto Solidarität mit den Terroristen zu inszenieren, von denen vier bei dem Überfall ihr Leben eingebüßt hatten. 

Mit Cicero würde ich gerne Josep Borrell, Miroslav Lajčák, den beiden Hauptverantwortlichen für die EU-Westbalkanpolitik zurufen: „Wie lange noch, wollt ihr unsere Geduld strapazieren?!“

Auch in Bosnien und Herzegowina ist die EU gegenüber serbischen Provokationen überaus duldsam. Der serbische Chefseparatist Dodik, der in dem bosnischen-herzegowinischen Teilstaat Republika Srpska diktatorisch herrscht, bekommt statt der angemessenen Sanktionen weiterhin Geld aus Brüssel. Ich konzentriere mich hier auf Serbien, Kosovo und Bosnien und Herzegowina weil dort das Risiko einer gefährlichen Eskalation besonders groß ist und weil dort der strategische Kern der notwendigen Umkehr gefunden werden muss. Die EU muss Serbien vor die Alternative stellen, ob der Weg nun entweder nach Moskau oder nach Brüssel führen soll. Beides geht nicht zugleich und vor dem Hintergrund der aktuellen russischen Aggression keine Entscheidung zu treffen, ist auch eine Entscheidung. Es geht nicht darum zu beschreiben, dass auch die Regierung des Kosovo Fehler gemacht hat. Aber das sind Fehler auf einem an und für sich richtigem Weg. Was Vučić macht, sind keine Fehler. Er schafft Fakten für eine autoritäre, extrem nationalistische anti-europäische Politik im Interesse Moskaus und Pekings. Doch seine Schnitte kommen aus Brüssel und nicht ein Bruchteil der Kritik, mit der Kosovo überzogen wird. Das ist nicht nur unbegründet und unfair, es ist unmoralisch und dumm.

Die derzeitige Brüsseler Führung hat weder den Willen, noch die Einsicht, noch die Autorität, eine Kehrtwende in der Westbalkan-Politik herbeizuführen. Deshalb braucht es eine Rebellion des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates gegen den Kurs von Kommission und EEAS – dem auswärtigen diplomatischen Dienst der Union. Einfach würde eine Kehrtwende sicher nicht, zumal auch die USA bisher auf demselben falschen Dampfer sitzen. Aber ohne eine Umkehr wächst die Gefahr fast jeden Tag, dass die Lunte, die schon gelegt ist, tatsächlich zu einer verhängnisvollen Explosion führt. Die EU muss umdenken, bevor die Kosten für ihre Fehler in viel Blut gemessen werden.

SONST NOCH

Anlässlich des 9. Jahrestages der Inhaftierung von Prof. Ilham Tothi, habe ich am Samstag, dem 23.09 auf einem Online-Panel mit dem Titel „Is the Uyghur Scholar Still Alive?“ gesprochen. Die Veranstaltung kann hier nachverfolgt werden.

Am Montag hat Dr. Janka Oertel bei einer Podiumsdiskussion der DGAP, an der ich teilnehmen durfte, ihr Buch „Ende der China-Illusion“ in Berlin vorgestellt. Hier kann die Diskussion nachverfolgt werden.

Auf Einladung der Britischen Botschaft in Berlin referierte ich am Montag im Rahmen der Veranstaltungsreihe Coffee Cake and China zur Chinapolitik der EU. 

Am Dienstag und Mittwoch fand eine Fraktionsklausur unserer Grünen/ EFA Gruppe in Madrid statt, an der ich teilnahm. Es ging vor allem um die Vorbereitung der Europawahlen im nächsten Jahr.

Die neue ARTE Dokumentation: „Taiwan – Angst vor der Invasion“, in der ich relativ ausführlich zu Wort komme, ist angelaufen und kann hier nachverfolgt werden.

Am 27.09 nahm ich am Empfang in Brüssel von Botschafter Michael Clauß zum Tag der Deutschen Einheit teil (wo ich kurz mit Nancy Faeser unterschiedliche Erwartungen zur Hessen-Wahl austauschen konnte ;) ).

Am 28.09 referierte und diskutierte ich bei einem Mittagessen mit mehreren PSK-Botschaftern auf Einladung von Botschafter Ossowski zur Chinapolitik. Außerdem traf ich den US- Botschafter und den neuen Repräsentanten Taiwans in Brüssel. 

In der nächsten Woche werde ich am am Warschauer Sicherheitsforum teilnehmen und dort auf verschiedenen Panels sprechen. Das Programm des Forum findet sich hier. Ich werde auch zusätzliche Gesprächstermine in Warschau wahrnehmen.

An der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Straßburg werde ich diesmal nicht teilnehmen.